Heute möchte ich euch einen wunderschönen Text von Julia Keller vorstellen. Im Frühjahr 2019 schrieb sie für die Hochschule Luzern einen Text zum Thema Mut. Er handelt über meine Lebensgeschichte und unser Treffen in Zürich. Der Schluss, so verrate ich euch bereits jetzt, löste bei mir und meiner Familie Gänsehaut aus!
Einige Wochen später überreichte sie mir als Dankeschön eine schwarze Box. Darin enthalten war ihre Arbeit im Taschenbuchformat, eine CD sowie eine selbst gestaltete Umhängetasche. Sie erzählte mir, dass sie ihre Arbeit selber auf die CD gesprochen hat. Die Umhängetasche bemalte sie mit vielen farbigen Pünktchen und schrieb mit schwarzer Farbe darauf: Glücklich steht dir gut. Ich hätte nie mit einer so lieben Geste gerechnet.
Julia Keller absolvierte im Sommer 2019 erfolgreich den Bachelor in Betriebswirtschaft mit der Vertiefung Kommunikation & Marketing an der Hochschule Luzern.
Nun wünsche ich euch, liebe Leser/innen viel Vergnügen beim Lesen des Textes «G(l)anz im Dunkeln» von Julia Keller.
G(l)anz im Dunkeln
Sie steht an der Bushaltestelle, mit einem leicht verträumten Lächeln im Gesicht und dem weissen Langstock in beiden Händen vor sich aufgestellt. «Hallo Siril.» Sie lächelt und streckt zur Begrüssung ihre Hand aus. Nach einem kurzen Wortwechsel dreht sie sich um. «Los geht’s. Komm, ich hake mich bei dir ein!» So ist Siril.
Siril ist 24 Jahre alt und seit 3 Jahren blind. In ihrem zarten Alter hat sie bereits zwei Krebserkrankungen überlebt. Die junge Frau mit knapp schulterlangem, braunem Haar und langen, dunklen Wimpern wohnt zusammen mit einer Studienfreundin in einem ruhigen Wohnquartier in der Stadt Zürich. Siril beschreibt den Weg zu ihrer Wohnung bis ins Detail.
«Ist es das Haus mit den grünen Fensterläden?»
«Ich weiss nicht.»
Kurze Pause. Dann lacht sie. «Kein Problem, jetzt habe ich wieder etwas dazu gelernt.»
In einer Wohngemeinschaft zu leben, gefällt Siril sehr. Hier fühlt sie sich Zuhause, kann sich ausbreiten und täglich etwas mehr Selbständigkeit zurückgewinnen. «Zudem ist es so schön, eine Mitbewohnerin zu haben – ausgenommen, wenn sie Gegenstände benutzt und nicht mehr an denselben Ort zurücklegt.» Sie grinst. Gerade hat sie fünf Minuten lang das Brotmesser gesucht
In ihrer Gesellschaft am Tisch sitzend und plaudernd erinnert nur der fehlende Blickkontakt daran, dass Siril ihr Gegenüber nicht sieht. Den Salatteller leert sie gekonnt. Und wenn doch einmal etwas neben dem Teller landet, nimmt sie das mit Humor, lacht kurz und tastet nach den Resten. Sie hört sehr aufmerksam und konzentriert zu. «Ja voll» gehört zu ihren Lieblingsantworten, um das Gehörte zu bestätigen. Sie interessiert sich für ihr Gegenüber und stellt Gegenfragen. Was als Interview gestartet hat, wird viel mehr zu einem Gespräch unter Freunden.
Um sich in der Wohnung zu bewegen, tastet sich Siril den Wänden entlang von Zimmer zu Zimmer. Die Wohnung kennt sie wie ihre Westentasche. Und wie ist das ausserhalb der Wohnung? «Blinde gehen eigentlich nie alleine an einen Ort, an dem sie noch nie gewesen sind.» Mit der Blindheit musste sie lernen, Hilfe anzunehmen und auch fremde Leute um Hilfe zu bitten. Das verlangt auch, anderen Leuten zu vertrauen. «Wenn ich jemandem begegne, der ein sicheres Auftreten hat und sympathisch klingt, dann vertraue ich dieser Person ziemlich schnell.»
Fremde Hilfe kann aber auch für Verwirrung sorgen. «Manchmal packen mich Leute bei einer Ampel einfach am Arm und ziehen mich über die Strasse. Das mag ich überhaupt nicht!» Siril versteht, dass solche Menschen nur hilfsbereit sein wollen. «Aber sie könnten ja zuerst fragen, wohin ich gehen möchte. Es kam auch schon vor, dass ich dadurch total die Orientierung verlor.» Allgemein möchte sie ganz normal behandelt werden. Es sei ja nur eine Sehbehinderung.
Die falsche Rücksicht von Menschen zeige sich teilweise auch in deren Wortwahl. Bei Fragen wie «Gehst du heute auch noch fernsehen, ääh, fernhören?» sträubt sich alles in Siril. «Welcher normale Mensch geht ‘fernhören’? Wer sagt so etwas?» Sie schüttelt den Kopf und lacht. Sie mag es, wenn Leute ganz unbeschwert reden und eine bildliche Sprache verwenden. Das grüne Schneidebrett, die orange Verpackung mit der goldenen Aufschrift. «So vergesse ich nicht, wie die Dinge aussehen. Ich sehe es äusserlich vielleicht nicht, aber innerlich mache ich mir ja trotzdem ein Bild.»
Siril ist froh, dass sie nicht seit Geburt blind ist. «Ich hätte auf eine Spezialschule gehen müssen und wäre im Denken viel eingeschränkter gewesen. Nur unter Blinden hätte ich mir wahrscheinlich die gleichen Grenzen gesetzt, wie es einem die Blindeninstitutionen beispielweise in der Berufswahl vorgeben.» Für blinde Menschen gäbe es drei Optionen: Entweder man arbeitet als Kauffrau im Büro, macht die Ausbildung zur medizinischen Masseurin oder arbeitet in einer Werkstatt. «Ich weiss jedoch, was ich gesehen habe und was möglich ist.»
Vor ihrer Erblindung hatte Siril die kaufmännische Lehre erfolgreich abgeschlossen. «Ich wollte aber nicht zurück ins Büro. Das hätte mich nur deprimiert, da ich jeden Tag damit konfrontiert worden wäre, was ich alles nicht mehr machen kann.» Daher hat sich Siril entgegen den Empfehlungen für etwas komplett Neues entschieden. Im Februar 2018 hat sie das Psychologie-Studium an der Zürcher Fachhochschule begonnen. Das Studium absolviert sie im Teilzeitmodell, damit sie genügend Zeit zum Lernen hat. «Wir Menschen nehmen 80 Prozent der Informationen über die Augen auf. Ohne Sehfunktion dauert es bei mir halt etwas länger, bis ich den Schulstoff repetiert habe.» Sie will etwas Sinnvolles machen. Anderen Menschen helfen. «Vielleicht kann ich Menschen in schwierigen Situationen ein paar hilfreiche Ratschläge geben, da ich selbst ja schon so einiges durchlebt habe.»
Siril erzählt von ihrer Krankheitsgeschichte. Bereits bei der Geburt wurde bei ihr ein bösartiger Tumor der Netzhaut festgestellt. Mit fünf Jahren galt sie als geheilt. Durch die Therapie erblindete sie jedoch auf dem linken Auge. Anstatt Trübsal zu blasen, schätzte sie ihr Augenlicht auf dem rechten Auge umso mehr. Im 20. Lebensjahr dann der Schock: Innerhalb einer Woche verlor sie 95 Prozent ihres restlichen Augenlichts. Die Ärzte waren zuerst ratlos, weil das Auge an sich gesund war. Man schob dieses Krankheitsbild auf einen Virus und vertröstete Siril, dass in acht Wochen alles wieder beim Alten wäre. Erst als man einen stark angeschwollenen Lymphknoten in der Leiste genauer untersuchte, stellte man die erschreckende Diagnose: Der Krebs war zurück.
Der Zusammenhang zwischen der Erblindung und der Krebserkrankung war noch nicht geklärt. Obwohl es sich um eine Art Augenkrebs handelte, hatte sich dieser nicht wie üblich hinter dem Auge, sondern in der zweiten Zehe des rechten Fusses ausgebreitet. Weltweit ist nur ein vergleichbarer Krankheitsverlauf bekannt. Daher hoffte Siril weiter, dass ihr Augenlicht zurückkommen würde. «Der Krebs war für mich zu diesem Zeitpunkt gar nicht so schlimm. Was mich mehr beschäftigte, war die Frage, ob ich je wieder sehen würde.»
Siril erblindete vollständig. Sie verlor ihr Augenlicht, da ihre Antikörper die eigene Netzhaut beschädigten, anstatt die Krebszellen zu bekämpfen. Sechs Chemotherapien, eine Stammzellentransplantation und eine zweimonatige Bestrahlung später erhielt Siril den langersehnten Bescheid: Die Krebsaktivität hatte sich eingestellt. «Die Ärzte sagten, wenn innerhalb von fünf Jahren keine Anzeichen von Krebs auftreten, bin ich ihn endgültig los. Und die Hälfte habe ich ja bereits geschafft.» Siril lächelt und zuckt mit den Schultern, als ob es um eine Kleinigkeit ginge.
Es ist das Licht, dass Siril am meisten vermisst. «Ich lebe in einer schwarzen Schachtel.» Bei ihr ist es den ganzen Tag dunkel. Jeden Tag. Doch Siril sieht der Tatsache ins Auge. Diese Umstände können ihren Tatendrang nicht stoppen. «Los, ich zeige dir meine Schule.»
Das Toni-Areal in Zürich-West ist sehr gross und weitläufig. Sogar als sehende Person könnte man sich hier leicht verirren. Siril geht voran und orientiert sich an den weissen Leitlinien am Boden. Sie erzählt, was man drinnen alles findet. «Links ist das ‘Momento’. Dort holen wir jeweils unseren Kaffee. Geradeaus hat es so Holzsitzgelegenheiten. Siehst du sie? Dort treffen wir uns manchmal zum Lernen oder Plaudern. Und rechts geht es zum Turm.» Hier hat sie den Überblick.
Die 6. Etage des Gebäudes ähnelt eher einem Kellergeschoss mit verwinkelten Gängen. Siril stört das sichtlich wenig. Ohne Umschweife bahnt sie sich den Weg zu verschiedenen Schulzimmern und präsentiert stolz ihren Sitzplatz in der Pole-Position direkt neben der Türe. «Nicht alles in dieser Schule macht Sinn. Hier und da stehen Säulen mitten im Gang.» Das ginge ja noch. Es sind vor allem die sich zum Gang hin öffnenden Türen, die Sirils Schulzeit abenteuerlich gestalten.
Dass sie sich so gut auskennt, kommt nicht von ungefähr. Seit sie blind ist, absolviert sie regelmässig Mobilitäts- und Orientierungstrainings. «Es sieht jetzt vielleicht einfach aus, aber ich habe stundenlang trainiert, bis ich beispielsweise den Weg von Zuhause bis zur Schule selber meistern konnte.» Mit dem Orientierungstraining hatte sie bereits im Spital gestartet. «Ich wollte vermeiden, dass mich die Angst packt, dass ich mich nicht mehr getraue, raus zu gehen.» Heute arbeitet sie mit tastbaren Plänen, um zusammen mit ihrem Coach neue Wege zu erlernen.
Siril steht an der Tramstation, am Anfang des Perrons, wo die weissen Leitlinien den Trameingang markieren. Das Tram fährt ein. «Sind die Sitzplätze frei?» Die Plätze beim Eingang sind eigentlich für Menschen wie Siril reserviert. «Es gibt aber trotzdem Leute, die sich dorthin setzen. Und ich möchte ja nicht auf deren Schoss landen.» Siril schmunzelt, als ob es bereits solche Anekdoten zu erzählen gäbe. Nach ein paar Minuten steht sie auf und tastet sich zur Türe. «Das ist meine Haltestelle. Hier steige ich um.» Sie winkt zum Abschied.
«Tschüss Siril, wir sehen uns.»
Sie lacht. «Wir sehen uns.»
Ein Text von Julia Keller
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